Trotz der Realität*

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*Wir beziehen uns in unserem Spielzeitmotto auf die naturwissenschaftlich und erkenntnistheoretische Definition von Realität: “Als Realität wird im allgemeinen Sprachgebrauch die Gesamtheit des Realen bezeichnet. Als real wird zum einen etwas bezeichnet, das keine Illusion ist und nicht von den Wünschen oder Überzeugungen einer einzelnen Person abhängig ist.”1 

“Realität ist das, was nicht verschwindet, wenn man aufhört daran zu glauben.”2 

“Wann man im Wald ist, die Augen schließt, und nicht mehr daran glaubt, dass überall um einen herum Bäume sind, und dann mit geschlossenen Augen zu rennen anfängt, wird man früher oder später die Realität spüren.”3 

„Kann man den Wert einer physikalischen Größe mit Sicherheit (das heißt mit der Wahrscheinlichkeit 1) vorhersagen, ohne ein System dabei in irgendeiner Weise zu stören, dann gibt es ein Element der physikalischen Wirklichkeit, das dieser physikalischen Größe entspricht.“4 und distanzieren uns von alternativen, metaphysikalischen und verschwörungstheoretischen Realitätsbegriffen. 

1www.wikipedia.de (“Realität”) (Stand 10.09.2021)
2
Philip K. Dick (2017): http://www.nachdenken-bitte.de/erkenntnistheorie/wahrheit-und-realitat/ (Stand 10.09.2021)
3Stephan Angene. www.nachdenken-bitte.de (Stand 10.09.2021)
4EPR-Theorem www.wikipedia.de (“Realität”) (Stand 10.09.2021)

Was ist eigentlich Realität? Wo verläuft die Grenze zwischen Realem und Irrealem? Gibt es überhaupt die tatsächliche, objektive Realität? Oder erschafft sich jeder Mensch seine eigene? In Zeiten von Telegram-Gruppen, Aluhüten und der renommierten YouTube-Universität kommt an diesen Fragen keiner mehr vorbei. 

Trotz der Realität* lautet das Motto der neuen Spielzeit des ArtEast Theaters Bamberg. In den Stücken werden wir die fließende und immer wieder sich verschiebende Grenze zwischen Realität und Wahnsinn ausloten.

In „L“ findet sich Held Johannes L plötzlich in einer fremden Welt: Alles ist mit blauem Schimmel überzogen, Panzerkolonnen fahren durch die Straßen. Als er Luzifer begegnet und Zeuge einer Bücherverbrennung wird, steht er vor der Wahl: Will er in sein altes, trostloses Leben zurück oder in der neuen, apokalyptischen Realität bleiben? Mitglieder von ArtEast haben die Novelle „G“ des Moskauer Autors Andrej Salomatow übersetzt und zu einer Bühnenfassung unter dem Titel „L“ umgearbeitet.

In „Der Mann aus Podolsk“ nach Dmitry Danilov findet sich Nikolai plötzlich auf einer Moskauer Polizeiwache wieder. Warum, das wissen weder er noch die Polizeibeamten, die ihn dorthin gebracht haben. Vielleicht finden sie es ja bei der Vernehmung heraus? Doch diese kippt ins kafkaesk Absurde. Sie mündet in eine Art Therapiesitzung, in der es um Sehnsuchtsorte, Lebenswelten und die Suche nach Sinn und Identität geht.

In „Quartett“ wird das Verfaulen von Gesellschaftssystemen, das im Menschen nur das Allerschlechteste hervorruft, von Heiner Müller als zynisches und grausames Spiel über die Jahrhunderte wiederholt. In der konzertanten Aufführung unter der Leitung von Jochen Neurath und in Kooperation von nonoise und ArtEast wird Zeit und Ort gleich ganz in die Imagination des Zuschauers verlegt. Das raubtierhafte Zerfleischen der Figuren wird nur aus der Sprache und den Möglichkeiten der Stimme heraus entwickelt.

In „Der Drache“ nach Jewgeni Schwarz hat sich ein Drache in der Stadt breit gemacht. Er schützt das Volk und gibt sich gnädig mit einer geopferten Jungfrau pro Jahr zufrieden. Irgendwann kommt der einfältige, junge Berufsheld Lanzelot daher und will den Drachen töten. Wenn da nur nicht das träge, unterwürfige Volk wäre: Lebt es sich nicht ganz bequem unter einem Alleinherrscher? Jewgeni Schwarz schrieb die Parabel 1943, zu Zeiten Hitlers und Stalins. Heute, da immer mehr Regierungen mitten in Europa die Demokratie abschaffen, wirkt sie erschreckend aktuell.

Die Protagonist:innen in den Stücken stellen sich also nicht die Frage:
Gibt es eine oder mehrer Realitäten? Welche ist die mögliche, bessere, wirkliche Realität?
Sondern versuchen, trotz ihrer aufgezwungenen Realitäten zu bestehen.

Bild: Katarina Vikulova