Ein Bericht über den Fall „Öffentlicher Raum“ („Јавна соба”) in Nordmazedonien

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Was passiert, wenn das System versagt? Seit mehr als einem Jahr schockiert der Fall um die Telegramgruppe „Öffentlicher Raum“ („Јавна соба”) in Nordmazedonien. Frauen, die Opfer sexueller Gewalt und Belästigung geworden sind, haben ihre Fälle öffentlich gemacht. Ihre Berichte zeugen von einer Inkompetenz der Institutionen, von einem Staat, der nicht Beschützer, sondern schweigender Befürworter des Leidens ist. Das fehlende Handeln ist Ausdruck eines überkommenen Systems. Aber was wird dagegen getan?

Am 27. Januar dieses Jahres traute sich die 28-jährige Ana Koleva ein Video auf Instagram zu veröffentlichen und ihre Geschichte zu erzählen. Ein Foto von ihr, das sie im Bikini am Strand zeigt, wurde ohne ihre Einwilligung in der Telegramgruppe „Öffentlicher Raum“ hochgeladen. Darunter ein kurzer Text, in dem ihr Name und ihre Telefonnummer angegeben werden. Dabei steht auch der Hinweis, man müsse sie zwar zum Abendessen ins Hotel, ins Kur- oder Schwimmbad einladen, dafür sei der Sex aber hochqualitativ. Zunächst ist Ana unklar, warum sie so viele Anrufe und Nachrichten mit eindeutigen Vorschlägen bekommt. Nach einer Weile erst erfährt sie dann, dass sie ein Opfer der Telegramgruppe „Öffentlicher Raum“ ist.

Ana ist nur eines der vielen Opfer dieser Gruppe. Darin tauschen tausende von Abonnenten Fotos und Videos von Frauen: Screenshots, private Fotos, heruntergeladene Fotos und Videos aus den sozialen Medien. Täglich wird zur Bespaßung der Mitglieder neues Material in der Gruppe hochgeladen. Sie funktioniert in etwa wie eine Tauschbörse für Frauen. 

Seit sie von der Gruppe weiß, beginnt für Ana der mühsame Weg nach Gerechtigkeit. Im Gegensatz zu vielen anderen Frauen, deren Fotos und Videos in die Gruppe gepostet wurden, bekommt Ana Unterstützung von ihren Nächsten und traut sich, den Fall der Polizei zu melden. Doch die Beamten müssen sie enttäuschen. Ihr Fall kann zwar als Missbrauch persönlicher Informationen eingestuft werden, doch laut Gesetz ist eine sexuelle Belästigung erst dann eine Straftat, wenn es sich bei dem Opfer um eine minderjährige Person handelt. 

Wie vielen weiteren Frauen bleibt Ana nichts anderes übrig als nach Kanälen zu suchen, um ihre Geschichte zu erzählen und so auch anderen Opfern zu zeigen, dass sie – zumindest unter sich – nicht alleine sind. Zusammen stehen sie nicht nur im Kampf gegen die Telegram-Täter, sondern auch gegen den Staat.

Obwohl die Hauptgruppe – erst nach einem Jahr – auf Telegram gesperrt wurde, ist weiterhin unklar, ob diese Praktiken ohne neue Gesetzgebung verhindert werden können. So bleibt den Frauen bisher nur die Möglichkeit, öffentlich auf die Diskrepanz zwischen gesellschaftlicher Wirklichkeit und staatlicher Kontrolle hinzuweisen.

Im Februar und März fanden zwei Demonstrationen statt, deren Mottos deutlich anklagen: „Der Staat, der nicht handelt, ist ein Staat, der vergewaltigt“ und „Öffentlicher Raum ist eine kriminelle Tat“. Verantwortlich für diese Aktionen sind vor allem nichtstaatliche Organisationen wie etwa die Koalition der marginalisierten Gruppen. Ihr Ziel ist es, die Geschichten der unterdrückten und sexuell missbrauchten und belästigten Menschen sichtbar zu machen. Denn das Problem beschränkt sich in Nordmazedonien nicht alleine auf die Telegramgruppe.

Sexueller Missbrauch und sexuelle Belästigung sind kaum Thema öffentlicher Diskussionen. Die Plattform Meduza will das ändern und versucht, unter anderem auch Transparenz in den Umgang der Polizei mit Opfern herzustellen. So drehte die Plattform Videos mit Schauspielerinnen, die anonyme Aussagen über die Arbeit der Polizei machten: „Er hat mich geschlagen,“ berichtet darin eine Frau von ihrer Aussage über häusliche Gewalt bei der Polizei: „Sie sagten, ich solle nach Hause gehen und der Ehe noch eine Chance geben.“ Noch drastischer fällt die Antwort eines weiteren Polizisten aus, von der berichtet wird: „Man kann den Faden nicht in die Nadel stecken, wenn sich die Nadel bewegt.“ (Die übersetzte Transkription von einem der Videos findet ihr hier)

Schaut man sich die vielen Einzelfällen an, von denen im Moment berichtet wird, entsteht das Bild eines großen Systemproblems, deren Ursache und Folgen tief in der Gesellschaft verankert sind. Denn parallel zu den im letzten Jahr intensiver gewordenen öffentlichen Debatten über sexuellen Mussbrauch und Belästigung sowie die Sensibilisierung der Gesellschaft für diese Fragen laufen sowohl auf der institutionellen als auch auf der privaten Ebene die unverändert chauvinistische Narrative des victim blaming weiter. Dies zeichnet nicht nur eine klare Grenze zwischen Staat und die marginalisierten Gruppen, sondern spaltet die gesamte Gesellschaft weiter, die momentan ohnehin aus etlichen Gründen (Akzeptanz der diversen ethnischen Zugehörigkeit, Religion, etc.) bereits gespalten ist.